Kategorien

Holakratie versus Hierarchie: Braucht unsere Arbeitswelt ein neues Betriebssystem?

Veröffentlicht: 11. August 2015Kategorien: Human Ressources

Vertrauen wächst mit Klarheit, Eindeutigkeit… Prozessregeln. „Trust grows when clarity grows“, schreibt folgerichtig Brian Robertson in seinem Buch “Holacracy: The revolutionary management system that abolishes hierarchy“, das ich dieses Wochenende dank diverser Zugverspätungen auf der Strecke Hamburg-Köln endlich auslesen konnte. Klarheit, vielleicht sogar noch besser zu übersetzen mit Eindeutigkeit, ist dabei nur eines der Stichworte, die Robertson´s Holakratie liefert, das in Zeiten von Unplanbarkeit einem hierarchisch organisierten Unternehmen weit überlegen sein soll. „Adopt holacracy or leave“, forderte Zappos CEO Tony Tsieh im Mai seinen Managernl. Zappos mit seinen 1500 Mitarbeitern gilt seitdem als Vorzeigeunternehmen der Holakratie. Doch was ist das eigentlich?

Die wichtigsten 8 Fragen und Antworten zur Holakratie:

1. Was ist Holakratie?

Robertson nennt es „an Operating System upgrade“, und das beschreibt es sehr kurz und sehr treffend. Dieses Bild sagt auch, dass Holakratie bei näherer Betrachtung keineswegs so revolutionär ist, wie viele glauben, die sich immer freuen, wenn eine neue Kuh durchs Dorf flitzt. Tatsächlich ist Holakratie nichts als eine neue Managementversion, die auf Altem aufsetzt. Sie ist aus meiner Sicht weit weniger revolutionär, als es der Erfinder Robertson an anderen Stelle behauptet.

2. Wie und wo muss ich Holakratie einordnen?

Holakratie ist eine neue Organisations- und auch Managementtheorie. Sie besagt, dass in Zeiten von Unsicherheit und Unplanbarkeit der Prozess im Mittelpunkt steht und nicht die inhaltliche „Wahrheit“ oder eine Person. So spielen in der Holakratie auch keine Personen mehr eine Rolle – sondern Rollen, die ein Mensch erfüllt. Hier hinein fügt sich der aktuelle Trend, der deutlich weg vom Ich ins Wir führt, von der individualistische Mach-dein-Ding-Mentalität der früher 2000er Jahre in eine kooperative Haltung des „alle ziehen an einem Strang“. Der Begriff fügt sich auch in die derzeitige Entwicklung hin zu agilem Management führt. Agilität, bis vor kurzem noch nur eine Projekt- oder Prozessmanagementmethode, wird dabei mehr und mehr zu einem neuen Unternehmensführungsstil. In diesen Kontext passen Stichworte wie “Führung von unten” und CEOs, die ihre Führungsaufgaben ad acta legen oder sich wählen lasen. Auch die Netzwerkorganisation mit ihren autonomen Zellen (hier wie eine Netzwerkorganisation entsteht), die letztendlich auch Holons sind, würde ich als Teil dieses Trends sehen. Und natürlich New Work.

3. Warum wurde Holakratie erfunden?

Ich zitiere Robertson: “The industrial-age paradigm operates on a principe I call predict and control: they seek to achive stability and success through upfront planning, centralized control, and preventing deviation…. Ogranizations were not buit for these kind of changes.” Holakratie setzt also im Wissenszeitalter der Unplanbarkeit an, in dem klassische Management- und Planungsmethoden versagen.

4. Wie arbeitet es sich in einer Holakratie?

Ganz sicher anders. Holakratie bedeutet, dass ein Unternehmen anders strukturiert und geführt wird als wir es kennen. Es entscheidet kein Management, sondern einzelne Zellen und Circle. Statt Jobtiteln gibt es Rollen. Eine Person kann dabei mehrere Rollen innehaben. Die „Funktion“ in einem klassischen Unternehmens ist damit aufgelöst. Niemand ist mehr kaufmännischer Manager, sondern er hat die Rolle „Finanzen“, die A, B und C beinhaltet. Innerhalb dieser Rolle besitzt er die Autonomie zu entscheiden, was er tut, so lange dabei keine andere Domain verletzt wird.

Die Domain (Bereich), Purpose (Zweck) und Accountability (Verantwortlichkeit) beschreiben die Eckpunkte, in denen eine Rolle agieren darf. Bewusst trennt Robertson zwischen „role“ and „soul“. Zuständig ist nicht der Manager X, sondern die Rolle für X. Dadurch soll der übliche Ego- und Status-Ballast aus den Unternehmen verschwinden.

Statt Hierarchien gibt es Zellen und Circle. Mehrere Rollen bilden einen Circle. Es kann auch einen Subcircle geben und einen Supercircle. Der Subcircle umfasst beispielsweise die Rollen in Social Media, der Circle das Online Marketing und der Supercircle das gesamte Marketing. Das erinnert Sie an Team, Abteilung und Bereich? Richtig. Nur dass Robertson diese nicht übereinander, sondern nebeneinander anordnet.

Es gibt keine höhergestellten Circle. Damit alle Circle gleichzeitig autonom sind und miteinander verzahnt, schafft die Holakratie neue Job- bzw. Rollenprofile. So ist der „Rep Link“, ein aus der Zelle gewählter Vertreter, der diese nach außen in die anderen Zellen repräsentiert, bildlich gesehen die Zellmembran durchbricht. Der „Lead Link“ ist eine (bestimmte, nicht gewählte) Führungskraft, die aber kein Manager im vielfach bekannte Sinn ist. Sie ist allein dazu da, dafür zu sorgen, dass Prozesse eingehalten werden.

Eine besondere Rolle kommt dem Facilitator zu. Facilitators sind Moderatoren, die nur dem Prozess dienen. „They serve the game and not the players“, sagt Robertson. Er meint damit, dass deren Aufgabe ist, auf die Einhaltung der Regeln zu achten, sonst auf nichts. Deshalb steht auch keine Evaluierung des Moderators auf dem Programm – es geht nicht um seine Person, sondern zum Beispiel nur darum, ob ein Vorschlag angenommen wird oder nicht. Trainer wird dieser neue Trend, der die Aufmerksamkeit von Person nehmen soll, freuen…. Oder auch nicht 😉

5. Woher kommt der Begriff Holokratie?

Den Begriff hat Brian Robertson geprägt. Es ist seine Erfindung. Und er nutzt dies kommerziell, indem er zum Beispiel Lizenzen zur Ausbildung vergibt. Das ist legitim, sollte man aber im Hinterkopf behalten. Wer etwas entwickelt hat und damit Geld verdient, wird schneller blind für Gegenargumente. Ob er dabei von kommerziellen oder wissenschaftlichen Interessen getrieben ist – mir scheint das oft auf dasselbe hinaus zu laufen.

6. Wofür steht Holocracy?

Der Begriff Holarchy geht zurück auf ein Buch eines der Idole meiner Jugend, den polit-naturwissenschaftlichen Literaten Arthur Köstler in seinem Buch „The ghost in the machine“. Der Titel kam einige Jahre vor dem Album von The Police auf dem Markt. Ich habe den Keller nach diesem Werk durchsucht, es aber bisher nicht wiedergefunden. Deshalb kann ich nur wiedergeben, was ich bei Wikipedia gelesen habe: Eine Holarchie nach Köstler besteht aus Holons, das sind autonome, sich selbst erhaltende Einheiten. Wer jetzt an Ken Wilber und die integrale Theorie denkt, liegt richtig. Inhaltlich gibt es klare  Überschneidungen. So ist die Holarchie im „türkisen“ Denken verankert sowie im systemischen „gelb“, das wir auch aus Laloux „Reinventing Organizations” (Rezension hier) kennen.

Das –cracy ist ein Wortbestandteil wie er auch in „democracy“ oder „autocracy“ vorhanden ist. Er signalisiert letztendlich, dass wir hier mit etwas Staatsähnlichem zu tun haben sollen, das eine zu Konstitution zu haben deklariert. In dem Zusammenhang verwendet Robertson immer wieder den Begriff Governance, der oft mit Staats-, aber auch Unternehmensführung übersetzt wird und eine Steuerungs- und Regelungsfunktion meint.

7. Wie bekannt ist Holocracy?

Google Trends bringt zutage, dass dieser Begriff im deutschsprachigen Raum derzeit noch keinerlei Medienrelevanz hat. Aber international ist das komplett anders. Die Holocracy-Kurve steigt seit Mitte 2013 immer weiter an. Ich muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Welle nach Deutschland schwappen wird…

8. Ist Holokratie hierarchielos?

Nicht wirklich. Zwar gibt es keine Chefs mehr, aber mit z.B. den Lead Links und Facilitators durchaus eine Art “Wächter”. Die Prozesse sind jedenfalls klarer geregelt als in jedem traditionellen Unternehmen. Das ist wenig prozessuraler Freiraum. Doch, genau das liegt der Unterschied: Der Prozess ist geregelt – nicht der Inhalt. Die Holakratie sagt also haarklein, WIE etwas zu tun ist, aber nicht WAS. Durch den Versuch über die Rollen den Mensch aus der Schusslinie zu nehmen, gleich ob Manager oder Mitarbeiter, wird alles versachlicht. Ich habe Zweifel, ob diese Versachlichung wirklich in dieser Form bestehen bleiben kann. Denn letztendlich ist es immer noch Klaus, der den blöden Kommentar im Forum von X geschrieben hat – und nicht seine Rolle. Ich lasse mich aber gern in der Praxis vom Gegenteil überzeugen.

Das Buch

Das Buch (derzeit nur Englisch) gut geschrieben, verständlich und systematisch aufgebaut. Was klar ist, dass Robertson natürlich nur sein „ganzes“ System verkaufen möchte und dass er dabei einige Male sehr unlogisch argumentier. So schreibt er eindringlich, dass es bei der Holakratie nur ein entweder-oder gibt, halb sei nicht möglich. Hier widerspricht er sich komplett selbst, da er am Ende seiner Ausführungen Beispiele vorstellt, bei denen Unternehmen „etwas“ Holakratie ausprobiert haben und hierdurch etwa ihre Meetings viel effizienter gestalten konnten. Natürlich geht auch ein bißchen Holakratie. Es gibt keine Studien, nichts was einen Beleg dafür lieferte, dass Holakratie wirklich überlegen ist – außerdem wann es überlegen ist – und wann nicht. Jeder vernünftige Unternehmen schickt sein Produkt auf einen Testmarkt, bevor es deutschland- oder weltweit einführt.

Es ist doch vollkommen verrückt anzunehmen, dies sei bei Managementmethoden anders (und doch tun deren Erfinder immer wieder so). Aber natürlich passt das nicht ins kommerzielle Konzept der Erfinder. Das muss wohl so sein. Also, ignorieren wir doch geflissentlich den eindringlichen Appell und probieren Holakratie im Kleinen aus. Das könnte sich wirklich lohnen…

Interesse mehr zu erfahren? Solche Themen sind auch Teil unserer Teamentwickler-Ausbildung TeamworksPLUS.

Beitrag teilen:

Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

3 Kommentare

  1. […] Vertrauen wächst mit Klarheit, Eindeutigkeit… Prozessregeln. „Trust grows when clarity grows“, schreibt folgerichtig Brian Robertson in seinem Buch “Holacracy: The revolutionary management system that abolishes hierarchy“, das ich dieses Wochenende dank diverser Zugverspätungen auf der S  […]

  2. Eugen Kloster 30. August 2015 at 9:47 - Antworten

    Gutem Tag,

    es erinnert mir zu sehr an ein Interview mit Steve Jobs (Apple) aus dem Jahr 2010. Wo das System, das er beschreibt, dem vom Herrn Robertson sehr sehr ähnlich ist.
    Wenn interessiert: http://bit.ly/1ibiPO9

    Beginnt mit: 1:00:17 – bis etwa 5 Minuten oder so.

  3. Fred 29. Dezember 2017 at 22:16 - Antworten

    Sicherlich wird das Konzept immer stärker in die Unternehmenswelt vordringen – insbesondere in der Gründerszene ist es ein großes Thema: (gelöscht, schien mir Werbung)

Einen Kommentar verfassen