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Life-Story-Forming: Wie Sie Ihr Leben umdeuten und auch die Zukunft neu gestalten

Veröffentlicht: 23. Januar 2016Kategorien: Psychologie

Erinnern Sie sich jetzt bitte an ein Ereignis aus Ihrer Jugend, Ihrer Ausbildung, dem Studium, dem Berufsleben, das prägend für Sie war. Malen Sie ein Mindmap mit Assoziationen zu diesem Ereignis. Sind Sie der Held? Wenn nicht erzählen Sie die Geschichte anders…

Das schaffst du nie!

„Das schaffst du nie!“ Susanne erinnert sich daran, dass zwei Mitschülerinnen, Inge und Ingrid, auch die doppelten Ingen genannt, genau das einmal zu ihr gesagt haben, als sie den beiden im Vertrauen erzählte, sie wolle von der Realschule aufs Gymnasium wechseln, studieren und irgendwann ein Unternehmen leiten. Susanne war damals sehr schüchtern und sagte nur sehr selten etwas. In der Schule hatte sie den Spitznamen „Träumerle“. Die doppelten Ingen schienen besorgt um sie, das ruhige und zurückhaltende Mädchen. Fast hätte ihr Wort sie gehindert, die Schritte zu tun, die sich zu einem Plan geformt hatten. Fast hätte sie sich einlullen lassen. Geglaubt, dass für sie nicht viel drin ist, weil sie ist, wie sie ist. Doch Susanne ging ihren Weg, gegen alle Hindernisse. Die doppelten Ingen haben dieses „jetzt erst recht“ in Susanne freigesetzt, das sie im weiteren Leben erfolgreich gemacht hat, sie die Schüchternheit überwinden ließ, zu einem Phönix aus der Asche werden ließ und der entscheidende Motivator dafür war, dass sie sich nicht in die Grenzen fügte, die andere ihr bewusst oder unbewusst setzten.

Concept of the human brain30 Jahre später trifft Susanne die doppelten Ingen auf einem Klassentreffen. Die mehrfach geschiedene Inge ist schon betrunken, als sie eintrifft, und Ingrid sieht krank aus, mit Ende 40 schon gezeichnet und erzählt von Depressionen. Für die beiden lebt Susanne, die Unternehmenssprecherin eines Konzerns war, durch die Welt gereist und jetzt Agenturchefin ist, in einer anderen Welt. Als Susanne sie fragt, ob sie sich an damals erinnerten, diesen für sie zu prägenden Satz, weiß keine mehr davon. Sie sagen vielmehr „Wir haben dir schon immer alles zugetraut.“

Wir haben dir schon immer alles zugetraut

Plötzlich versteht Susanne, was sie nie verstanden hat. Inge und Ingrid haben aus ihrer eigenen Brille gesehen, was sie sehen konnten. Und jetzt deuten sie ihre eigenen Erlebnisse mit den neuen Kenntnissen um, weil die Vergangenheit nicht mehr passt, zu dem was sie jetzt sind und sehen.

Die kleine Geschichte ist ein Beispiel für ein Life Story Forming, eine im Nachhinein konstruierte Lebensgeschichte, die dem Leben einen roten Faden, einen Sinn gibt. Suchen Sie nicht nach dem Begriff, ich habe ihn erfunden. Die Life Story ist aber zum Beispiel durch „A New Big Five“-Erfinder Dan McAdams unter Psychologen bekannt. Story Telling ist ein Begriff aus dem Marketing, aber ich meine mehr als das.

Die geformte Geschichte basiert auf den Eigenschaften und Motivatoren von Susanne, auf dem was in ihr angelegt ist, bezieht aber auch das Erlebte mit ein und gestaltet es mit den Mitteln der Emotion und der Sprache. Diese Formung kann sehr bewusst geschehen – und so, dass es zu dem später Erlebten passt, sich einfügt und ein rundes biografisches Bild ergibt.

Ob die Geschichte so wirklich passiert ist – es ist am Ende nicht wirklich wichtig. Wir konstruieren unsere Erinnerung durch uns selbst, aber auch durch andere, die Teil unseres Bewusstseins sind und dort Erinnerungen erzeugen, die wirklich da sind oder neu hinzukommen. Ja, auch ganz neu. Dass Erinnerung nicht real sein muss und trotzdem echt, zeigen Experimente einer britischen Psychologin, die ihren Probanden einflüsterte, sie hätten in ihrer Jugend einen Diebstahl begangen. Das machte sie so überzeugend, dass diese am Ende wirklich daran glaubten. Nun geht es hier nicht um Diebstahl, aber um positive Vergangenheitsgestaltung, sehr hilfreich im Coaching. Viele Menschen tragen Erinnerungen in sich, die sie hindern, mutige Schritte in die Zukunft zu gehen. So erinnern sich Mädchen an ihre Matheprobleme oder Jungs daran, dass sie schon immer schlecht in Sprachen waren. Die Eltern bestätigen das, die Freunde – aber vielleicht nur, weil man es ihnen erzählt hat? Deutet man lebensprägende Geschichten um, entstehen neue Möglichkeiten.

Nichts ist wie es war

Thinking young woman with looking up at many questions marksVieles, was wir erinnern, ist so nicht passiert oder in der Wahrnehmung der anderen anders abgelaufen. Doch wir brauchen Heldengeschichten, die uns zeigen, wer und wie wir sind. Eine meiner persönlichen Heldengeschichten spielt sich in Klasse 13 ab, Leistungskurs Geschichte. Mir gegenüber sitzt Richard, der natürlich anders heißt. Er schimpft über das „sehr gut“ der schon damals eher individualistischen Svenja, die laut Lehrer so gut herleiten und interpretieren kann. Svenja macht das stolz. Sie will nicht sein wie Richard, der langweilige Musterschüler. Sie bewertet das Eigene, die Idee höher als die Reproduktion. Das sagt im Nachhinein eine Menge über Svenja, über mich, meine Persönlichkeit und das Leben, das danach kam. Ob es wirklich so passiert ist, weiß auch ich nicht. Lange eine Wahrheitssuchende, ist es mir inzwischen nicht mehr wichtig, ob etwas objektiv wahr ist und was stimmt, denn das „wahr“ und „echt“ hat sich immer weiter relativiert mit zunehmenden Alter und wohl auch Wissen. „Es ist wie es ist sagt die Liebe“, dieses Zitat von Erich Fried habe ich für mich umgedeutet: „Es ist wie es für mich ist, sagt das Leben.“

Das ist überhaupt der Schlüssel: Wenn wir akzeptieren, dass unser Gehirn keine Wahrheit speichert, sondern das individuelle und kollektive Bewusstsein, können wir viel leichter mit Vergangenheit und Zukunft umgehen. Denn wenn wir unsere Vergangenheit neu formen und ihr Sinn geben können, dann geht das gleiche auch mit der Zukunft.

Das Geschichten-Umschreiben funktioniert auch im Kleinen. Diesen Beitrag schreibe ich in der Bahn von Hamburg nach Köln. Erst mal warte ich 50 Minuten auf den verspäteten Zug. Dann endet der Zug in Düsseldorf. Ich merke den Ärger und die Wut auf den anonymen „Feind“ Deutsche Bahn in mir hochsteigen, aber auch, dass dieser Ärger mich nicht weiter bringt. Also zaubere ich Bilder der Vergangenheit in meinen Kopf. Dieser Bahnhof war durch vier Jahre Pendelei von Köln auch mal ein Zuhause, ein Durchreisebahnhof. Mir fallen wirklich wunderbare Geschichten ein. Und der Ärger ist weg.

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

4 Kommentare

  1. Katharina Bonné 25. Januar 2016 at 8:41 - Antworten

    Liebe Frau Hofert,

    wir lesen heutzutage viel rund um das Visualisieren, Visionboards und die Frage “Was will ich wirklich?”, stellen die Erkenntnisse dann vielleicht sogar an der Wand in Wort und Bild da … wir wissen, unser Gehirn unterscheidet hier nicht zwischen Vorstellung und Realität.

    Die Idee aber, genau dies auch für die eigene Vergangenheit anzuwenden, ist grandios. Herzlichen Dank für diesen Impuls.

    Liebe Grüße
    Katharina Bonné

  2. Florian 26. Januar 2016 at 13:34 - Antworten

    Super geschrieben! Das gilt natürlich für das gesamte Leben, aber insbesondere für die Berufswelt. Jeder zurückgelegte Weg kann erst mal als wertvolle Erfahrung angesehen werden. Und es besteht zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, sich in eine andere Richtung zu bewegen. Mittlerweile bietet das Leben so viele Möglichkeiten, sich beruflich zu verändern, sei es durch Weiterbildungen oder den Einstieg in fremde Branchen. Es muss lediglich Vertrauen in sich selbst da sein.

  3. Bärbel 26. Januar 2016 at 14:36 - Antworten

    Hallo,
    der Artikel erinnert mich wirklich an vergangen Zeiten – und daran, dass ich diese Erinnerungen ganz anders wiedergebe, wie meine Schwester. 🙂

    Das wir das damals anders erlebt haben, war mir schon klar – dass wir aber selbst heute noch an unseren Erinnerungen “schrauben”, ist mir erst gerade klar geworden.

    lg
    Bärbel

  4. Stefan 15. Januar 2023 at 14:30 - Antworten

    Hallo Frau Hofert,

    auf der Suche nach der Bedeutung des “Story” Begriffs in der Psychologie, welcher mir im englischen Sprachraum mindestens seit einigen Jahren recht verbreitet zu sein scheint, bin ich auf Ihren Atikel gestoßen. Dazu eine Verständnisfrage: Was meinen Sie, wenn Sie schreiben “Suchen Sie nicht nach dem Begriff, ich habe ihn erfunden”? Der “Story”-Begriff als solcher scheint mir nicht gemeint zu sein. Heßt es doch gleich im Folgenden “[d]ie Life Story ist aber zum Beispiel durch ‘A New Big Five’-Erfinder Dan McAdams unter Psychologen bekannt”. Beziehen Sie sich also speziell auf das “Life Story Forming”, als das nachträgliche Konstruieren einer “Lebensgeschichte, die dem Leben einen roten Faden, einen Sinn gibt”? Falls dem so ist: ist ebnen jenes Sinn gebende Konstruieren, dem Story Begriff nicht ohnehin inhärent?

    Und gleichzeitig: Welche deutschsprachigen Veröffentlichungen zum psychologischen Begriff der “Life Story” können Sie empfehlen?

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