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Warum wir uns Veränderungen so beharrlich verweigern – und wie es doch gehen kann

Veröffentlicht: 6. Juni 2018Kategorien: Psychologie

Wie veränderungsresistent sind Sie auf einer Skala von 0 (ich hasse Veränderung) bis 10 (ich nutze jede Chance, etwas neu und anders zu machen)? Mein Onkel Franz meckerte sein ganzes Berufsleben. Er schimpfte, wenn er aufstand und wenn er abends ins Bett ging. Und zwischendurch: Vor dem Fernsehen, in der Kneipe. Niemand gab ihm Kontra. Alle stellten auf Durchzug, selbst sein Chef. Franz blieb bis zur Rente beim gleichen Betrieb. Auch sein angestammtes Umfeld verließ er nie. Jahrzehnte gab es keinen Millimeter Veränderung. Veränderungsbereitschaft gleich 0.

Ist Veränderungsresistenz angeboren?

Franz ist auf den ersten Blick eine Bestätigung dafür, dass Veränderung unmöglich oder schwierig ist. Auf den zweiten ist die Geschichte noch nicht Zuende. Es lässt sich bis hierhin die Hypothese bilden, dass Menschen, die ihr Umfeld nie verlassen und keine schweren Krisen durchlaufen, besonders veränderungsresistent sind. Ist es das System, dass die Position „festschreibt“?

Oder ist es die Person, die sich Umfelder sucht, die optimal zu ihren angeborenen Eigenschaften passen und jene verlässt, die nicht passen? Die vorherrschende Meinung ist, dass sowohl Kontext und Umwelt als auch das „Erbe“ eine Rolle spielen, je nach „trait“, also Eigenschaft, zu unterschiedlichen Anteilen. Mal erklärt das Erbe einen großen Teil der Varianz, mal kleinen. Bei Offenheit für neue Erfahrungen ist der Teil größer. So ließe sich sagen: Wäre Onkel Franz genetisch mit einer höheren Offenheit gesegnet gewesen, hätte er vermutlich mehr Bedürfnis nach weiter Welt, Kunst, Philosophie, Musik, allgemein geistiger Anregung und Abwechslung im Beruf gespürt.

Wie gelingt Menschen eine Anpassung an die Bedingungen der Digitalisierung?

Nun ist diese Diskussion – Erbe oder Umwelt? – ebenso alt wie zentral für die Lösung aktueller Fragen, etwa:

  • Wie wahrscheinlich ist es, dass Migranten aus anderen kulturellen Umfeldern, sich hier innerhalb einer Generation integrieren? Und was ganz würde das begünstigen?
  • Wie lassen sich Nachteile durch negativ prägende Umfelder ausgleichen?
  • Und nicht zuletzt eine meiner persönlichen Kernfragen: Wie gelingt Menschen eine Anpassung an die Bedingungen der Digitalisierung? Wie kann Agilität, echte Kollaboration und generell ein Umdenken gelingen?

Ich erlebe häufig festgefahrene Positionen. In Deutschland ist die systemische Beratersicht verbreitet. Sie basiert oft mehr auf den soziologischen oder allgemeinen Systemtheorien und ist vermutlich aufgrund ihrer hohen Abstraktion gerade beliebt bei Naturwissenschaftlern. Diese berücksichtigt innerpsychische Prozesse kaum oder gar nicht. Deutsche Psychologen wiederum sind nach wie vor geprägt durch den Behaviorismus, der ebenso keinen Blick auf die Psyche zuließ, sondern auf das Verhalten fokussierte. Wir alle erinnern uns wahrscheinlich an den Pawlowschen Hund und die Skinner-Experimente.

Danach ist nicht nur der Hund, sondern auch der Mensch durch Belohnung “erziehbar”. Der Glaube, dass das so sei, ist ausgeprägter als in den USA, wo auch das Coaching mehr durch die humanistische Psychologie geprägt ist. Aus dem „deutschen“ Gemisch entsteht meiner Beobachtung nach eine Einstellung, die eine Verhaltensänderung entweder durch neue systemische Möglichkeitsräume zu erwarten (Berater) oder durch Training von Verhalten (Personalentwicklung). Beide sind in ihrer Absolutheit so sicher nicht richtig, wenn auch nicht falsch.

Es ist nicht Entweder-oder sondern sowohl-als-auch

Die Entweder-oder-Diskussion bringt uns nicht weiter. Es sind ganz unterschiedliche Aspekte, viele Variablen, auch Unbekannte, die bei Veränderungen eine Rolle spielen. Es ist ein Feld von hoher Komplexität. Das Stacey-Diagramm unterscheidet chaotische, einfache, komplizierte und komplexe Zustände. Letztere entziehen sich einem linearen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Deshalb können die obengenannten Fragen nicht mal interdisziplinär vollständig beantworten. Sie können sogar gar nicht beantwortet werden, gefragt ist der Versuch. Doch stattdessen agieren Postionen im Wettstreit nicht mit- sondern gegeneinander.

Wir wissen nichts wirklich. Wie also gelingt eine Anpassung an die Bedingungen der Digitalisierung? Auf welche Weise lässt sich ein Onkel Franz in eine neue Arbeitswelt integrieren? Der Kritiker, das Lästermal, der, der alles Neue verneint? Was hätte sein Chef ändern können? Wo sind die Stellschrauben.

Persönlichkeitsentwicklung als Bildungsaufgabe

Meiner Überzeugung nach ist das Bildungssystem in einer zentralen Verantwortung (wieder) mehr die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Leistungsurteile mit Noten sind der falsch Weg, denn sie führen dazu, dass Kinder und Jugendliche das machen, was Lehrer erwarten. Sie fördern somit Anpassung an die Leistungsgesellschaft. Mein Sohn z.B. widerspricht offensichtlich falschen Darstellungen seitens eines Lehrers nicht, weil dieser darauf beleidigt reagiert und ihm das seine Note verhageln könnte. Lehrer sollen keine Benoter sein, sondern Entwicklung fördern.

Falsch verstandene Stärkenorientierung

Da Menschen wie Onkel Franz dem Bildungssystem bereits entwachsen sind, kommen auch Arbeitgeber nicht darum herum, Persönlichkeitsenwicklung mehr zu forcieren. Indem man Menschen Jahre und jahrzehntelang vor sich hin „wurschteln“ lässt – wie Franz – , lässt man sie auch in der Komfortzone. Es ist eine falsch verstandene Stärkenorientierung, wenn Coaches oder Personalentwickler davon ausgehen, dass das, was jemand gerne macht, immer eine Stärke ist und man sie in dieser belassen muss. “Kritiker” wie Franz sind wertvolle Mitarbeiter, aber nur, wenn sie ihre Kritik nicht verletzend, sondern fruchtbar für alle in die Welt bringen.

Familiäre Konstellationen prägen

So braucht jede „Leitstärke“ – so nenne ich das in meinem Modell des StärkenNavigators – auch Begleitstärken, etwa aus dem Bereich der Kommunikation.
Stärken, das ist ein großes Missverständnis, sind auch nicht gottgegeben, sondern entwickeln sich. Beziehen wir das eingangs Gesagte ein, so entstehen sie aufgrund von teils genetisch bedingten persönlichen Eigenschaften, aber auch durch das Umfeld. Die familiären Konstellationen spielen eine erhebliche Rolle. Geschwister entwickeln sich etwa über sogenannte De-Identifikation, also indem sie sich voneinander abgrenzen. Das ist wichtig zu wissen, auch für Personalentwickler. Leider wären Fragen in diese Richtung ein Tabu, denn der private Bereich wird u.a. von Betriebsräten vehement geschützt. Dabei liegt einer der entscheidenden Schlüssel für persönliches Wachstum darin, sich mit der Frage auseinander zu setzen, warum man geworden ist, wie man ist – und wie man eigentlich wirklich sein will. Über diese Prägung habe ich u.a. hier geschrieben.

Adaptiver Wandel geht nur in kleinen Schritten

Geht es nun um die notwendigen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung, brauchen wir „adaptiven Wandel“. Das bedeutet eine evolutionäre Anpassung an neue Bedingungen. Ich sehe vor allem zwei ganz wesentliche Punkte, die dazu nötig sind:

  • Menschen müssen lernen, selbstorganisiert zu lernen.
  • Menschen müssen ihre Fähigkeiten im Unterschied zum Computer (wieder) zu entdecken. Dazu gehören Intuition, Empathie und Kreativität.

Beide Punkte stehen unter einem übergreifenden Thema: Selbstentwicklung. Abraham Maslow kannte das Bedürfnis Selbstaktualisierung. Mir scheint, dieses setzt Selbstentwicklung voraus. Prof. Julius Kuhl kennt in seiner PSI-Theorie das Freiheitsmotiv – ist dieses nicht geradezu die Voraussetzung für Selbstentwicklung? So sehen es auch einige Philosophen, allen voran Peter Sloterdijk.

Die Herausforderung liegt darin, dass die bisherige Gesellschaft auf Selbstentwicklung nicht ausgelegt ist. Wir haben Menschen erzogen, die sich lieber nicht selbst entwickeln. Die sich darauf verlassen, dass andere sie mit dem notwendigen Neuen “füttern”. Das Motiv Selbstentwicklung wurde abtrainiert. Das lässt sich auch systemtheoretisch betrachten: Viele organisationale Systeme erhalten sich dadurch, dass Menschen sich eben NICHT weiterentwickeln wollen (sonst würden sie da nicht mehr arbeiten wollen). Man kann es auch aus Sicht der Persönlichkeitspsychologie betrachten: Manche Systeme ziehen Menschen mit anderer Persönlichkeitsstruktur an, z.B. einer höheren Sicherheitsorientierung (hinter der immer Angst steht, während Selbstentwicklung Freude freisetzt).

Das Unbewusste ist der Schlüssel

aus: Robert Kegan, Immunity to change

Der Mensch ist veränderungsimmun, sagt der Harvard-Entwicklungspsychologe Robert Kegan. Zwischen Wollen und Handeln klaffen Welten. Die Veränderungsresistenz erklärt sich aus Widersprüchen zwischen bewusster Zielsetzung und unbewussten Grundannahmen. Lässt sich diese Immunität auflösen? Ja, sagt Kegan und verweist auf Jahrzehnte Forschung.
Wer diese unbewussten Grundannahmen – die “bis assumptions” – sichtbar macht, kann sie testen und damit auch auflösen.

Kegan liefert damit eine praktische Hilfe, um dieser „Immunity to change“ auf persönlicher Ebene und in Teams entgegen zu wirken und adaptiven Wandel zu ermöglichen. Ich arbeite viel mit diesem Modell und finde es äußerst hilfreich. Es erfordert allerdings, dass Menschen bereit sind, über sich zu reflektieren und auch ans „Eingemachte“ zu gehen.

Kegan unterscheidet drei Plateaus der Entwicklung Erwachsener: Das sozialized mind, das self-authoring mind und das self-transforming mind. Letzteres ist der Bewusstseinszustand, der wirksame Veränderung ermöglicht, aber kaum ein Prozent haben ihn erreicht. Kegans Daten für die Verteilung auf den Plateaus stimmen weitgehend überein mit denen von Jane Loevingers Ich-Entwicklung (hier ein Beitrag).

Neben einer gewissen Reife ist die Voraussetzung auch, dass Menschen etwas wirklich wollen. Gesetzt eine Formel “Veränderung ist Wollen mal Können mal dürfen” gilt, dann kann das Wollen Können und “Dürfen”  beeinflussen, also Grenzen überschreiten.

Onkel Franz´ Geschichte ist nicht zuende. Schon in der Rente und nach dem Tod seiner ersten Frau lernte er eine gleichaltrige Dame kennen. Die unterbrach ihn, wenn er sich in Redeschwällen ergoss und setzte durch positive Haltung und Selbstbewusstheit ganz andere Zeichen. Und siehe da, Onkel Franz wurde ruhiger, meckerte weniger und zeigte sogar bisweilen Humor. Ich wette, dass er auch glücklicher war.

Fazit: Veränderung braucht vier Dinge

  • Erstens: Äußere – auch erzwungene Veränderungen, neue Begegnungen, andere Lebensumstände verändern den Menschen. Einfach dadurch, dass neue Konstellationen, anderes Verhalten verlangen.
  • Zweitens: Persönlichkeit kann sich auch im höheren Alter ändern. Niemand ist wie er ist, jeder so wie er sein will.
  • Drittens: Es ist die Bewertung einer Person durch andere, die den Unterschied auch für die Person selbst macht. Jeder wird nur durch die Brille der anderen “so” oder “so”. Sie beeinflusst auch die eigene Sicht.
  • Viertens: Am einfachsten geht Veränderung, wenn die äußere die innere Veränderung anstößt, wenn also positive Emotionen im Spiel sind und keine negativen, die Widerstand auslösen.

aktualisiert 31.1.2019, dank für Hinweis zu Julius Kuhl an meine Leserin Karin Seibl.

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

4 Kommentare

  1. Kerstin Till 13. Juni 2018 at 23:15 - Antworten

    Anstelle des Motivs Selbstentwicklung meinst du sicher das Freiheitsmotiv, das Motiv nach freiem Selbstsein.
    Das ist das 4. Motiv der PSI- Theorie, eine Abwandlung des Machtmotivs.

    • Svenja Hofert 8. August 2018 at 12:07 - Antworten

      Hallo Kerstin, ich meine Selbstentwicklung, Das nennt auch Kühl in “Persönlichkeit und Motivation im Unternehmen”. Geht aber auch auf andere zurück, z.B.Maslow. Es ist ungleich Freiheit. LG Svenja Hofert

  2. Sebastian 15. Juni 2018 at 11:26 - Antworten

    Diesen Beitrag finde ich super hilfreich, denn er beschreibt im Kern genau die Probleme, auf die ich in der Praxis treffe.

    Erst letzte Woche führte ich ein Gespräch mit einem erfahrenen Mitarbeiter und stellte ihm die Frage, warum unsere Sprints in der Softwareentwicklung irgendwie nicht die Ergebnisse bringen, die vereinbart waren und warum scheinbar Zeit übrig bleibt, noch ganz andere nicht vereinbarte Aufgaben zu erledigen (die entsprechend keine Priorität genießen).

    Die Antwort war zunächst noch oberflächlich: “Wir müssten im Team wohl einfach mehr darüber sprechen und die Aufgaben besser verteilen”.

    Ich fragte nach: “Was kannst du dazu beitragen?”

    Antwort: Naja, vielleicht müsste ich ‘das’ (Anmerkung: Daily & Agiles Entwicklungsvorgehen) erstmal wirklich ernst nehmen.

    Das war entwaffnend ehrlich. Die Agilität funktioniert bestenfalls oberflächlich, weil sie im Kern nicht ernst genommen wird. Weil Kollegen Jahrzehnte auf eine ganz andere Arbeitsweise trainiert worden sind und überzeugt sind, damit weiterhin erfolgreich zu sein.

    Ich frage mich jedoch, wie ich hier eine Veränderung auslösen kann. An Grundannehmen zu arbeiten, die häufig auch – wie angemerkt – im privaten Bereich enden, ist weder so richtig gewollt, noch bleibt dafür ausreichend Zeit, noch besitze ich die dafür notwendigen Skills (denke ich…).

    Eine Ursache scheint mir zu sein, dass sich die Kollegen in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr selten an Veränderungen anpassen mussten, sich Verhaltensweisen deshalb sehr festsetzen konnten und die Fähigkeit zur Anpassung langsam verloren ging.

    Doch wie kommen wir aus der Nummer wieder raus? Das ehrlich Bekenntnis ist ein erster Schritt und ich werde behutsam versuchen, damit und daran zu arbeiten. Bin gespannt wie weit wir kommen.

    Grüße,
    Sebastian

  3. Helfried Faschingbauer 7. August 2018 at 14:55 - Antworten

    Zum Artikel ist sehr viel zu sagen. Ich starte einmal mit dem, was mich am meisten getroffen hat.
    Ich möchte wahrscheinlich alles lieber, als die Entwicklung der Persönlichkeit meiner Enkelkinder der derzeitigen Verfassung des Schul- und Wirtschaftssystems (Unternehmen) überlassen. Es reicht, was sie sich aneignen müssen, um in diesen Systemen bestehen zu können. Das Zugeständnis, dass sich das System verändern müsse, um Fehlentwicklungen vorzubeugen, erscheint mir mehr als naiv. Gerade im Schulsystem geht die Entwicklung derzeit in die entgegengesetzte Richtung.
    Ich war mit Ausnahme von Ferialjobs immer im Bildungsbereich und im Dienstleistungsbereich (Universität, Arbeitsmarktservice) tätig. Die verbreiteten Einführung des Managements über Ziele (MbO) und von Qualitätssicherungssystemen geht der Blick weg von den Bedürfnissen der Menschen hin zu Zahlen, die die Effizienz der Unternehmen im Blick haben. Wer ein Ziel- und Qualitätssystem als Richtschnur seines Handelns hat, braucht weder Moral noch gesunden Menschenverstand. Wollen wir das wirklich?

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