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Wer bin ich, wenn sich alles verändert? Die Veränderungen in der Arbeitswelt und warum sich das Verständnis von beruflicher Identität hin zu einem fluiden Selbst wandeln muss

Veröffentlicht: 9. Dezember 2018Kategorien: Psychologie

Wer sind Sie? Denken Sie jetzt an Ihren Beruf oder etwas anderes? Ihren Arbeitgeber zum Beispiel? Als Sie geheiratet haben, mussten Sie Ihren Beruf angeben. Mir fiel das schwer. Ich hatte schon damals, 2001, keinen wirklichen Beruf. Ich war nicht (nur) Lehrerin, nicht Schriftstellerin, nicht Managerin, nicht Pressesprecherin, nicht Coach – ich hatte einen Uniabschluss und empfand mich als fluide. Deshalb strich ich in der Heiratsurkunde diesen Punkt einfach durch.

Immer weniger Berufe: Chancen und Risiken

Mit dem “Eigenen”, das keinen Namen hat, gehen Chancen und Risiken einher. Nicht nur für die Person, den Menschen selbst, für uns alle. Denken Sie auf der Chancenseite an Freiheit, Selbstverwirklichung, das Grundeinkommen und an eine Welt, in der jeder seinen Platz finden kann. Denken Sie auf der Risikoseite an Orientierungslosigkeit, die Unfähigkeit zur Selbstverantwortung, Entscheidungs- und Ich-Schwäche. Tritt letzteres in den Vordergrund, wird eine Welt, in der die Digitalisierung immer weniger Berufe parat hat, zum Risiko. Dann destabilisiert es, wenn z.B. ein Begriff für tausende verschiedene Dinge herhalten muss. Ich erinnere hier nur an den eierlegende Wollmilchsau- Begriff „Coach“.

Beruf als zentraler Ort der Identitätsfindung

Der Beruf gilt als zentraler Ort der Identitätsfindung. Wer keinen Beruf hat, sucht noch mehr nach Identität durch Firmenschilder wie Google, BMW etc. Das ist eine weitere Gefahr, denn diese Firmenschilder geben nur vorübergehend Heimat und sind schnell verbrannt, heute mehr als früher. Sie zahlen auf die berufliche Identität ein und können deshalb auch den Selbstwert erhöhen und senken. Wonach soll ich googeln, wenn ich nicht weiß, was ich bin? Sollte wahr werden, was Jeremy Rifkin mit „Das Ende der Arbeit“ bereits 1995 verkündete, wird damit ein gesellschaftliches, ja globales Identitätsproblem einhergehen. Und möglicherweise ist das, was wir derzeit auch politisch erleben, längst ein Auswuchs davon.

Streuner in Sachen Identität

Findet der Mensch keine berufliche Heimat mehr, dann fängt er an zu streunen: Die einen streunen und finden ihr Ich: Sie erkennen Möglichkeiten, viel mehr zu werden als sie in einem Beruf je sein könnten. Die anderen streunen und verlieren sich im Nichts und in Parolen von anderen. Sie suchen Orientierung und finden Haltlosigkeit, die wie Halt aussieht. Das „Ich“ ist dann nicht stark genug, es braucht eine pseudo-starke, nämlich autoritäre Führung. Solche Menschen suchen nach anderen, die keine Freiheit geben, sondern nehmen. Mit der Ich-Entwicklung nach Loevinger lässt sich das sehr gut erklären. Sie liefert auch Handlungsanweisungen, würde sich endlich mal jemand im deutschen Bildungssystem dafür interessieren!

Das unmittelbare Umfeld prägt am meisten

In meiner Familie gab es auch wenig richtige Berufe, möglicherweise hat meine innere Öffnung deshalb schon früh stattgefunden als bei anderen, in deren Familie klassische Karrieren wie Rechtsanwalt, Friseur, Architekt, Arzt die Normalität anzeigten.

Denn der wichtigste identitätsbildende Faktor ist die Familie und das unmittelbare Umfeld. Teilnehmer meiner Workshops und Ausbildungen kennen mein „Berufogramm“, das ich am Genogramm angelehnt habe – wer Orientierung sucht, sollte erst mal klären, was den bisherigen Rahmen gebildet hat. Wo Blicke offen und wo geschlossen waren, wo Träume realisiert und wo unterdrückt worden,  Gendertypische Bilder oder genderuntypische.  Der Beruf schafft den Rahmen für Identitätsfindung. „Geh doch zu Onkel Werner in die Werkstatt, der gibt dir eine Festanstellung“, sangen die Ärzte mit „Junge“.

Coaching- und Therapieziel beruflicher Identitätsbildung

Die Ärzte besangen 2006 damit ein Problem unserer Zeit im Umbruch, in der Destabilisierung beruflicher Identität: Immer noch suchen die Eltern nach einem Beruf und die Kinder können ihn nicht mehr finden.  Die Folgen sind gesellschaftlich überaus relevant, sie betreffen uns alle. Findet sich berufliche Identität nicht, so gilt das als Therapieziel. Wir Coaches, ob als Berufscoach als Persönlichkeits-, Führungs- oder Teamentwickler haben damit ständig zu tun, und sind doch oft keine Therapeuten.

Klar ist bei einer solchen Perspektive, was vielen nicht bewusst ist: Wenn die berufliche Identität abnimmt, muss die Persönlichkeitsreife gefördert und der Wert „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ gestärkt werden, sofern wir keine Arbeitsroboter wollen (dies würde den Wert “Anpassung” erfordern”). Das setzt eben oft vorher die Auseinandersetzung mit Schatten, blinden Flecken, hinderlichen Narrativen und der eigenen Sozialisierung voraus. Im Grunde also das, was in der Therapie auch stattfindet. Dieser Zusammenhang scheint vielen nicht klar. „Ist ja nur ein berufliches Problem“.

Berufliche Probleme sind Zeichen inneren Zwistes

Doch berufliche Probleme sind die stärksten Indikatoren inneren Zwistes und Spiegel privater Orientierungslosigkeit (und umgekehrt). Dieser innere Zwist ist psychologisch und eben immer tiefergehend, nie an der Oberfläche. Wenn ich wie diese Woche bei Spiegel Online über Konfliktunfähigkeiten in Teams schreibe, so sind diese Auswüchse eines Grundthemas, das überall mitschwing: Geht berufliche Identität verloren, schwindet die Bedeutung eines Fachthemas, nimmt die Relevanz von Individualexpertise ab, und steigt der Anspruch an Persönlichkeitsbildung-

Ohne berufliche Identität braucht es mehr Persönlichkeitsbildung

Schwierig finde ich deshalb, dass in Deutschland ein sehr großer Teil der Lehrer, Ausbilder und Coaches ohne psychologisches Hintergrundwissen tätig wird – und in diesem Themenfeld frei von Bewusstsein für diesen entscheidenden Punkt arbeitet. Wir haben es da in den Teams, in den Führungsrollen, bei der Berufssuche sehr, sehr oft mit Fällen zu tun, die mindestens an der Grenze zur Therapie liegen und oft darüber. Das erst zu verstehen und dann zu erkennen, müsste meiner Meinung nach ein zentraler Punkt der Coachausbildung sein. Ich habe diesen Punkt im Hinterkopf mein Buch “Hört auf zu coachen” geschrieben. Ich habe viel begeistertes Feedback von denen bekommen, die auch bemerkt haben, was ich festgestellt habe. Da gibt es einen Gap, den spürt, wer mit Menschen arbeitet, was aber in Ausbildungen nicht thematisiert wird. Ich bemühe mich, den Gap zu schließen.

Klares und stabiles Bild von sich

Nach der berufsbezogenen Persönlichkeitstheorie von John Holland aus dem Jahr 1997 ist berufliche Identität (vocational identity) in dem Maße gegeben, in dem eine Person ein klares und stabiles Bild ihrer eigenen Ziele, Interessen und Fähigkeiten besitzt. Das ist auch die Beschreibung eines Menschen im gut ausgebildeten Effektiv-Modus (E6 nach Loevinger). Es ist die problemlos „coachbare“ Persönlichkeit, der reife und integre Mensch. In der positiven Psychologie wäre es der charakterstarke Mensch, in der Transaktionsanalyse jemand, der seine Zustände bewusst wahrnimmt und steuern kann. Jedes psychologische oder therapeutische Konstrukt hat ein ähnliches Bild von psychologischer Reife.

Doch es gibt entscheidende Unterschiede. Besteht ein dynamisches oder statisches Bild? Oder auch: Glaube ich an den autonomen Menschen oder nicht? Halte ich ein Ich, einen Persönlichkeitskern für möglich? Der systemische Ansatz scheint hier bisweilen Grenzen zu sehen, bei näherer Betrachtung und in einer reiferen Interpretation tut er es nicht. Ein Konstrukt wie ein Persönlichkeitskern wäre eben ein Placebo. Ein guter Placebo, ein nützlicher.

Holland sieht noch nicht das klare und selbstaktualisierungsfähige Bild, sein Bild ist statisch. Ein dynamisches Bild spiegelt sich z.B. bei Carol Dweck im „growth mindset“, aber auch in der gesamten humanistischen und positiven Psychologie.  Der dynamische Mensch ist ein Mensch, der sich auch neu und selbst definieren kann. Aus meiner Sicht müsste die Theorie der „vocational identity“ deshalb ein Update erfahren. Die Arbeitswelt der Zukunft erfordert, dass man ein selbstaktualisierungsfähiges Bild eigener Ziele, Interessen und Fähigkeiten besitzt.

Persönlichkeit oder Arbeitsmaschine? Wir entscheiden

Die meisten Menschen sind nicht selbstaktualisierungsbereit – auch weil wir sie im Bildungssystem nicht darauf vorbereiten. Weil wir nicht darauf achten, unsere Kinder zu Persönlichkeiten zu machen. Ein Symptom: Lehrer verteilen immer noch Musterschreiben der Arbeitsagentur aus den 1980 Jahren. Weil wir Arbeitsmarktreife fördern, aber nicht Persönlichkeitsreife. Weil wir Anpassung belohnen, nicht die Fähigkeit zur Neugestaltung von Rahmenbedingungen – also im Sinne Kohlbergs, postkonventionelles Denken (im Sinne Loevinger E 7).

Wann nimmt sich endlich jemand dieses Themas an? Wir müssten dann auch nicht mehr über Agilität und ihre seltsamen Auswüchse sprechen, wenn Mitarbeiter eben keine Verantwortung übernehmen. Wir hätten andere Führungskräfte. Und ein Donald Trump wäre schlechter vorstellbar. Demokratie würde aufgewertet.

Und ein instabiles Selbst birgt viele Risiken, deshalb ist Stabilisierung auf einem höheren Niveau so wichtig.  Ein fluides Selbst braucht mehr noch als ein statisches, eine innere Sicherheit, Zutrauen zu sich selbst und anderen.

Mir fällt nur Gutes ein, wenn ich an ein fluides Selbst im Zusammenhang mit beruflicher Idenitätsbildung denke, die dann automatische eine ganzheitliche Identitätsbildung werden müsste. Das einzig schwierige ist: Das alles ist viel anstrengender als Erziehung zur Anpassung.

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

2 Kommentare

  1. Ruth Pink 14. Dezember 2018 at 22:38 - Antworten

    Mir gefällt der Beitrag sehr gut.
    Ich denke, dass das Zutrauen zu sich selbst zu einer innereren Haltung führt, die nach außen sichtbar wird. Jedenfalls stelle ich dies immer wieder in meinen Coachings fest, wenn sich Menschen ent-wickeln.
    Wünsche einen schönen Jahreswechsel, Ruth Pink

  2. Marc Mertens 19. Dezember 2018 at 14:53 - Antworten

    Es ist eine feine Geste von Ihnen, dass Sie mit einer profunden Kenntnis und verständlichen Sprache solche Artikel verfassen. Ich finde es als Anhäger japanischer Qualitätstugenden oder KAIZEN-Verfechter immer wieder schön, wenn eigenes Wissen und Expertise auch frei zugänglich an Leser/innen bzw. Interessierte von Ihnen weitergegeben wird. So macht das Internet auch wieder dem Sinn nach Spaß und zeigt seine Nützlichkeit.

    Einzig, ich kann Ihre Kritik an die Heerscharen an Coaches und Berater – ohne psychologische Fachkenntnisse – gut verstehen, welche sich auf dem Projektmarkt tummeln, aber es gibt auch verständige Experten, welche auch ohne psychologische Grundausbildung gute, effektive und meistens auch auf den Menschen abgestellte Trainings und Beratungen anbieten.

    Mir macht in der jetzigen Zeit einige Sorgen, dass weder unsere Poltik, noch unsere Gesellschaft, noch unsere Wirtschaft in vielen/einigen Teilen sich nicht der agilen Welt wirklich bewusst ist. Wir stecken immer noch im “Verwaltungsmodus des Status Quo” und nicht im Innovationsmodus desgleichen. Als Vater eines grundschulpflichtigen Kinds in Bayern darf ich das jeden Tag live und in Farbe miterleben.

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